Abendgottesdienste mit Totengedenken und Bert Brechts "Seeräuber Jenny"

Ist der Himmel nur Wunschdenken und Projektion?

 

 

Der erste Sonntag im Monat November ist in Sankt Michael traditionell dem Gedächtnis der Verstorbenen des letzten Jahres gewidmet. Gut 30 Menschen aus der Gemeinde selber oder solche, die der Gemeinde irgendwie besonders verbunden waren, sind wieder gestorben.

Sylvio Krüger hatte die Kirche optisch vorbereitet. Etwas merkwürdig die Flächen links und rechts: Wo sonst die Krippe zu sehen ist gab es einen Putzwagen, Staubsauger, auf der anderen Seite hatte Sylvio ein Schiff auf einem Podest positioniert… Vor dem Altar stand die Mauer, bereit Teelichter aufzunehmen.

Als besondere Gäste begrüßte P. Hösl zu Beginn die Angehörigen der Verstorbenen, die man alle angeschrieben hatte – viele waren gekommen!

In der Verkündigung erzählte P. Hösl von der Seeräuber Jenny aus Bert Brechts Dreigroschenoper. Lotte Lenya, Hildegard Knef und viele andere haben das Lied schon gesungen. Jenny muss in einem "lumpigen Hotel" als Dienstmagd ihr Dasein fristen, sie lebt von den Almosen der Gäste, mehr schlecht als recht. Aber in ihren Träumen ist sie die Seeräuber Jenny – Kapitänin eines großen Piratenschiffs, das eines Tages kommen würde. An diesem Tag würde es endlich offenbar werden, dass sie nicht das Dummchen ist, für das sie alle hielten. Und dann würde sie abrechnen mit all denen, die sie verletzt haben, um dann, mit einem "Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen an Bord" einem neuen Leben zuzueilen…

Natürlich spielt sich das alles nur in Jenny Fantasie ab. In Wirklichkeit ist sie immer noch Dienstmagd im „lumpigen Hotel“, angewiesen auf lumpige Pennys, die man ihr gönnerhaft zuwirft.

Verhält es sich mit der Religion ähnlich? Ist der Himmel nur eine Projektion menschlicher Sehnsucht, die man sich verschafft, weil das Leben im „lumpigen Hotel“ Welt sonst nicht auszuhalten wäre? – Das Christentum ist genau das Gegenteil! Es entspringt nicht der Sehnsucht, sondern der Erfahrung! Christus war keine Illusion, sondern eine Manifestation. Der Auferstandene wurde gesehen, gehört, gefasst, wie Johannes in seiner Vorrede seines ersten Briefes festhält. Und weil ich nicht von meinen eigenen Wünschen und Projektionen lebe, sondern von Christus, deshalb muss ich mich auch nicht – wie Jenny – an der Rache derer laben, die mir das Leben schwer machten.

Anschließend las Beate Michel die Namen der Toten dieses Jahres vor. Für jeden wurde ein Teelicht angezündet. Dann durften alle Gottesdienstbesucher nach vorne kommen und eine Kerze für ihren Verstorbenen anzünden, egal ob dieser erst kürzlich oder schon länger verstorben ist.

Nach dem Gottesdienst ist vor dem Gottesdienst – um kurz nach 20:00 Uhr begann die Moonlightmass. Auch in ihr ging es um das Schicksal der Pirate Jenny. Passend dazu hatte der Musiker, Gerd Bergemann, sein Schifferklavier und Seemannslieder mitgebracht. Die Eucharistie feierte die Gemeinde dann im Kreis um den Altar.

Wie es mittlerweile schon guter Brauch ist treffen sich anschließend noch einige Gottesdienstbesucher im Fegefeuer der KHG. Diesmal trafen sich beim Dämmerschoppen (allerdings nur Tee!) Studierende aus Ghana, Rumänien, Italien, China und Deutschland.