Emmanuel Levinas als Philosoph der Anderheit und Gastlichkeit

Vortrag von Prof. Dr. Josef Wohlmuth, Bonn, im Rahmen der "Woche der Brüderlichkeit"

 

In dieser Woche begehen Juden und Christen die traditionelle Woche der Brüderlichkeit. Das Jahresthema der Gesellschaft für christlich - jüdische Zusammenarbeit Göttingen lautet in diesem Jahr: "In Verantwortung für den anderen." Sie hatte am Montagabend zu einem Vortrag in den Gemeindesaal von Sankt Michael geladen. Der Zuspruch zu der Veranstaltung war überraschend groß, so dass der Stuhlkreis schnell zu klein wurde, als Heiner Willen die Gäste und den Referenten begrüßen konnte. Eingeladen war Professor Josef Wohlmuth aus Bonn, katholischer Dogmatikprofessor und seit langer Zeit im jüdisch - christlichen Dialog engagiert, u.a. beim ZdK in Bonn. Er sprach über Emmanuel Levinas als Philosoph der Anderheit und Gastlichkeit.

Das Denken von E. Levinas, einen in Kaunas geborenen, nach Frankreich ausgewanderten Juden, kreist um die Anderheit als Grundbefindlichkeit des Menschen. Das ist nicht moralisch - appellativ zu verstehen, sondern axiomatisch: Der Andere hat Priorität, nicht das Ich! Während Martin Buber Du und Ich noch ineins zu setzen versuchte, überbot Levinas dies und privilegierte den Anderen. "Das Antlitz spricht - und zwar bevor es den Mund aufmacht", so Wohlmuth. "Und was sagt es? Bitte lass mich leben!" Der Mensch erfährt: Ich bin bedroht oder gewünscht - in jedem Fall erfahre ich mich als bezogen auf den anderen. Ich sehne mich nach dem anderen, obwohl ich ihn nicht brauche.

Dieses Denken sieht Levinas schon im jüdischen Schöpfungsdenken angelegt. Die Schöpfung weiß sich schon vom ersten Augenblick an geschöpft, verdankt, geschaffen, ja geliebt. Vielleicht - so Wohlmuth - besteht hier sogar der größte Gegensatz zum griechischen Denken, denn dort ist alles ungeschaffen, ewig wie die Evolutionstheorie ebenfalls besagt. Wohlmuth brachte ein weiteres Bild um Levinas Denken deutlich zu machen: Bevor sich ein Mensch im Mutterleib artikuliert ist er schon angesprochen, ernährt, versorgt. Der Andere ist somit schon da, bevor das Ich sich formiert.

Von daher kommt die Wichtigkeit des christlichen Gebots zur Nächstenliebe, das ja ein jüdisches Gebot ist (Lev 19,18b). Die Geschaffenheit von Seiten Gottes (dem der erste Satz der ersten Tafel der 10 Gebote entspricht: Ich bin der HERR dein Gott...) korrespondiert mit der Verantwortung für den Nächsten (ausgedrückt im ersten Satz der zweiten Tafel: Du sollst nicht töten!). Nur diese originale Verankerung in der Anderheit kann echte Humanität gewährleisten. Dabei wagt Levinas eine neue Übersetzungsakzentuierung des Gebotes in der Tora: Statt: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst! übersetzt Levinas: Liebe den Nächsten - sei Du selbst! Oder besser: Das bist Du selbst. Oder: Der andere hat Dir gegenüber Priorität.

Diese Priorität des Anderen führt zur Gastlichkeit, ohne die sich Levinas eine gerechte Politik nicht wirklich vorstellen kann. Wenn man unter dem Hauptgebot versteht, sich erst selbst zu lieben und dann - falls gleichsam noch was übrig bleibt - erst den anderen, kommt es nie zu wirklicher Gerechtigkeit auf Erden. Demgegenüber will die Tora eine Rückkehr des Menschen zu seiner wahren Menschlichkeit, die im Gaststatus, in der Anderheit begründet sei.