Sozialethiker Hengsbach empfiehlt "Schildkröteln" für die Zeit zwischen den Jahren

Der Referent des Mittagstisch - Jubiläums lässt es zwischen Weihnachten und Dreikönig ruhig angehen

 

 

Ludwigshafen (KNA) "Schildkröteln" empfiehlt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach SJ für die sogenannte Zeit zwischen den Jahren. In den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr fielen viele aufgezwungene Arbeiten etwa aus der beruflichen Sphäre weg. Dann könne man aus eigenem Antrieb heraus das tun, was einem Spaß mache. Es gelte, "die Freiheit zu genießen, jene Menschen zu besuchen und zu erleben, die wir mögen", sagte der Jesuit in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur. Hengsbach, Autor des Buches "Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung" bezieht sich beim Begriff "Schildkröteln" auf den Kabarettisten Gerhard Polt. Dabei gehe es um eine Auszeit, um Muße und Meditation gegen "den alltäglichen Wahnsinn". Der Jesuit warnt deshalb davor, die "Zeit zwischen den Jahren" zu verplanen und zu überfrachten. Er empfiehlt zudem, immer sonntags das Alltagshandeln zu unterbrechen und dem nachzuspüren, was geschehen ist. "Das hält mich im Gleichgewicht und seelisch gesund."

Herr Professor Hengsbach, was ist Zeit?

Hengsbach: Das abstrakte Wort "Zeit" ist eine Chiffre dafür, wie wir unser Handeln an Ereignissen und Bewegungen anderer orientieren - etwa an der Erdumdrehung, an der Umlaufbahn der Erde um die Sonne und der des Mondes um die Erde, oder an den leiblichen und mentalen Rhythmen, die wir im Innern spüren oder an den gesellschaftlichen Regeln. Im Gleichklang mit solchen Ereignisfolgen werden wir ruhig und empfinden Frieden. Hektik und Atemnot sind verflogen.

Sie stellen in Ihren Veröffentlichungen die These auf, dass die oft beklagte Atemlosigkeit unserer Gesellschaft ihre Wurzeln in den beschleunigten Finanzmärkten und der rasant fortschreitenden Informationstechnologie hat.

Hengsbach: Das ist meine Hypothese. Die Finanzmärkte haben sich von der Realwirtschaft gelöst. Immer mehr Geld wird immer schneller bewegt. Ein Devisenhändler kann in einer Minute drei bis vier Geschäfte abwickeln, automatische Handelssysteme schaffen davon 100 Millionen, das sind 60 Milliarden Geschäfte an einem Börsentag. Dieses Tempo übersteigt jedes menschliche Fassungsvermögen. Die rasende Beschleunigung überträgt sich kaskadenartig auf börsennotierte Unternehmen, auf die Entscheidungen der Politiker, auf die Arbeitsverhältnisse und letztlich auf die Privatsphäre. Dort trifft sie am meisten die Frauen, weil sie unbezahlt die Hauptlast der Familienarbeit tragen.

Was kann angesichts dieser globalen Zusammenhänge der Einzelne tun?

Hengsbach: Als Einzelner bin ich gegen die strukturelle Gewalt ziemlich machtlos. Dennoch kann ich Oasen bilden, um die Souveränität über die Beziehung zu mir selbst und anderen wiederzugewinnen - etwa mich selbst und mein Handeln ordnen und entrümpeln, aus dem Abstand heraus unterscheiden, was notwendig, angenehm und überflüssig ist, gegenüber überzogenen Erwartungen Nein sagen, tun, was mich heiter stimmt, mich auf eine Sache konzentrieren.

Wobei viele Frauen stolz darauf sind, sie seien beim Multitasking viel besser als Männer...

Hengsbach: Wird dieses "Talent" den Frauen durch die gesellschaftlichen Rollenmuster nicht nur einfach zugemutet? Multitasking geht nicht in die Tiefe, bleibt oberflächlich. Eine innere Ruhe entsteht nicht. Und viele brechen am Ende erschöpft zusammen. Ganz wichtig sind Unterbrechungen des alltäglichen Wahnsinns - eine Auszeit, Muße, Meditation. Der Kabarettist Gerhard Polt nennt dies "herumschildkröteln".

Wo kommt bei diesem Denken Gott vor?

Hengsbach: Was wir "Zeit" nennen, entsteht, wo sich etwas bewegt. Gott, aus dem wir in die endliche Welt eintreten und zu dem wir im Tod zurückkehren, legt seine Ewigkeit, wie es im Buch Kohelet heißt, in alles hinein, was wir tun. Mit der Berufung Abrahams und der Befreiung aus Ägypten entdeckt Israel eine geschichtlich lineare Segenszusage Gottes.

Und mit dem Neuen Testament kommt verstärkt der Gedanke der Naherwartung vom Kommen des Reichs Gottes dazu?

Hengsbach: Die Naherwartung der frühen Christen ist für uns zu einem Weckruf geworden, den Gott jetzt durch andere Menschen an uns richtet, etwa dem Schrei der Flüchtlinge nicht auszuweichen.

Nach Weihnachten beginnen die Tage, die manche mit dem leicht absurden Begriff "Zwischen den Jahren" benennen. Was ist das Besondere an dieser Phase, dass sie sogar einen eigenen Namen hat?

Hengsbach: Wir erwarten, dass die uns aufgezwungenen Arbeiten etwa aus der beruflichen Sphäre wegfallen, dass wir aus eigenem Antrieb das tun, was uns Spaß macht. Dass wir die Freiheit genießen, jene Menschen zu besuchen und zu erleben, die wir mögen.

Was machen Sie "zwischen den Jahren"?

Hengsbach: Ich besuche Angehörige und Freunde. Was ich danach mache? Vermutlich "schildkröteln", Musik hören, Briefe schreiben, nichts tun, was mir von außen auferlegt ist. Schlimm wäre es, ich würde mich total verplanen und überfrachten. Ich sollte lieber im kommenden Jahr immer am Sonntag das Alltagshandeln unterbrechen und dem, was geschehen ist, nachspüren. Das hält mich im Gleichgewicht und seelisch gesund.

Quelle: www.jesuiten.org