Theologie als Schriftauslegung - Andreas Lindemann zum 100. Geburtstag von Hans Conzelmann

Laudatio im Rahmen der Reihe "Schriftauslegung im Spannungsfeld von Bildung und Religion"

 

Am Mittwochabend fand in der Paulinerkirche ein hochkarätiger Vortrag von Prof. Andreas Lindemann (Bielefeld) anlässlich des 100. Geburtstags von Hans Conzelmann (1915-1989) statt.

Der Ortsordinarius für Exegese des neuen Testamentes, Florian Wilk, stellte den Referenten kurz vor und erwähnte unter den zahllosen Publikationen besonders dessen Ausgabe über die Apostolischen Väter und das in vielfacher Auflage bis heute erscheinende Arbeitsbuch zum Neuen Testament. Im Rahmen der Reihe Schriftauslegung im Spannungsfeld von Bildung und Religion referierte dann A. Lindemann über Theologie als Schriftauslegung. Zum Werk von Hans Conzelmann (1915-1989).

A. Lindemann behandelte fünf Punkte seines akademischen Lehrers und schickte ein paar biographische Daten zum schwäbischen Exegeten und Theologen voraus. Conzelmann wandte sich besonders der Erforschung des Lukasevangeliums und dessen Apostegeschichte zu. Neben Willi Marxsen und Günther Bornkam gehört er zu den Pionieren der Redaktionsgeschichtlichen Methode der Erforschung des NT.

Der erste Punkt betraf Conzelmanns Dissertations- und Habilitationsschrift. Beide haben Lukas zum Thema. Besonders Letztere erfuhr viele Auflagen, für ein genuin wissenschaftliches Fachbuch eher selten. In Die Mitte der Zeit beschreibt Conzelmann mit und bei Lukas einen Epochenwandel: Lukas lenkt dezent die Fokussierung weg von der Parusie, der Erwartung des wiederkommenden Christus, hin zum schon gekommenen Jesus. Sein Dasein auf Erden, sein Gekommensein gilt als die Mitte der Zeit, der die Zeit der Verheißung (bis zu Johannes dem Täufer) vorausging und der die Zeit der Kirche (ab Christi Himmelfahrt bzw. Pfingsten) folgen sollte. Insofern ist die Zeit der Kirche die „letzte“ Zeit, unabhängig wie viele Jahre (oder Jahrtausende...) diese auch noch dauern mag. Anstatt fiebernd auf den kommenden Richter zu warten gilt es am Leben Jesu Maß zu nehmen und das mit ihm eingetretene Reich Gottes zu gestalten.

In einem zweiten Punkt beschrieb Lindemann seinen Lehrer primär als Theologen: Die Evangelien sind nicht die Botschaft selbst (das Kerygma), sondern schon dessen Einkleidung, Entfaltung und Anwendung. Theologie sei die Explikation des Bekenntnisses, so Lindemann über Conzelmann.

In einem dritten Punkt beschrieb Lindemann den verstorbenen Jubilar als vorsichtigen Partizipienten an der Diskussion um den historischen Jesus, die Conzelmanns Lehrer R. Bultmann und dessen Schüler E. Käsemann entfachten. Während Bultmann sehr pessimistisch war, was die Erarbeitung des historischen Jesus, seine ursprünglichen Wort und Taten war, betonte Käsemann, dass es ganz ohne historischen Jesus in der Theologie nicht geht – und nicht zu gehen braucht. Denn es ist mehr historisch herauszuholen als Bultmann noch meinte. Hier wird oft auf das Unähnlichkeitskriterium abgehoben, d.h. den Original-Jesus haben wir besonders da vor uns, wo er sich vom Judentum einerseits und der späteren Kirche andererseits pointiert unterscheidet. Conzelmann versuchte hier eine vorsichtige Mittelposition zu besetzen: Die Evangelisten hätten Jesus Worte und Taten nicht konservieren, sondern interpretieren wollen.

In einem vierten Block deutete Lindemann das Verhältnis von Judentum und AT zum NT bei Conzelmann an. Klar sei, dass man das Judentum nicht bei Johannes dem Täufer enden lassen könne. Das tut schließlich auch das NT nicht, das sowohl die Katastrophe vor Christus als auch 70 n.Chr. beschreibt bzw. andeutet.

In einem letzten Punkt erwähnte Lindemann die in vielen Auflagen zusammen von ihm und Conzelmann herausgegebene Theologie des NT (Grundriß des Neuen Testamentes) sowie die Position von Conzelmann zur Rechtfertigungslehre Luthers. Den Vorwurf, die Rechtfertigungslehre verführe den Menschen zum Nichtstun ließ Conzelmann nie gelten. Sie setze den Menschen erst frei und entbinde ihn des Druckes sein Heil schaffen zu müssen, um der ewigen Strafe zu entgehen. Wer die Pistole im Rücken hat ist nicht wirklich frei zu guten Werken...

Letztlich, so Lindemann über Conzelmann, kann man in der berühmten Areopagrede in der lukanischen Apostelgeschichte (Apg 17) den Text des Lukas sehen, der seinen Zuhörern genauso gilt wie uns Christen heute: Paulus steht vor der Aufgabe seinen (jüdischen) Glauben den (hellenistischen ) Heiden zu vermitteln. Was Paulus damals in Athen leistete, das müssen wir heute im Dialog mit den Philosophien unserer Zeit leisten. Und genau das war das Anliegen Hans Conzelmanns zu seiner Zeit.

Im Anschluss an den gut einstündigen Vortrag gab es ein reichliches Buffet, wo man mit dem Referenten, aber auch so manchem Gast ins Gespräch kommen konnte.